Modell des Ablaufs einer Projektentwicklung für die erzählerische Vermittlung von Kulturerbe mittels mobiler Technologien

(1) Zentrales Thema – Worüber soll erzählt werden?
Geht es beispielsweise darum Objekte in einer Dauerausstellung mit erzählerischen Mitteln in einen grösseren Zusammenhang zu bringen oder ein spezifisches Thema in einer Sonderausstellung narrativ zu erweitern und dadurch zugänglicher zu machen?

Beispiel: in der My Bourbaki Panorama App sind die dargestellten historischen Ereignisse aber auch die Geschichte des Panoramas selbst die zentralen Themen.


(2) Werte – Welche Werte sollen vermittelt werden?
Werte hängen sehr stark mit der Mission einer Institution zusammen. Was ist der Auftrag, auf welchen die Existenzberechtigung der Institution fusst? Geht es z.B. um die Entwicklung einer kritischen Erinnerungskultur in Bezug auf spezifische historische Ereignisse oder um die Bewahrung und Weitergabe eines spezifischen Kulturerbes?  
Ein Erlebnis weckt Emotionen und erzeugt Erinnerungen. Es umfasst dramatische Handlung, sensorische Einbindung und zeitliche Interaktion mit den Besucher*innen. Während eines Erlebnisses  werden Bedeutungen und Assoziationen geschaffen, die wichtiger werden können als das Ereignis selbst. Welche Emotionen möchte man mit der Erzählung wecken, welche Erwartungen sollen bei den Besucherinnen und Besuchern erfüllt aber vielleicht auch gebrochen werden?
Beispiel: Beim Erinnerungsweg des Franzoseneinfall steht die Bedeutung von persönlicher Freiheit und politischer Unabhängigkeit im Vordergrund.

INHALTE

(3) Vorhandene Welt
Bestandsaufnahme: Welche Aktanten* sind bereits vorhanden? Welche existierenden, historisch belegte oder aus der Überlieferung bekannte Objekte, Wesen, Charaktere sind dies und auf welchen Schauplätzen, Orten agier(t)en diese bzw. werden oder wurden sie benutzt. Es kann sich dabei auch um bereits verstorbene Personen handeln, um mythische Figuren oder Monumente, die nicht mehr vorhanden sind. Zu diesem Zeitpunkt sollen noch keine zusätzlichen Aktanten oder Schauplätze erdacht werden, sondern lediglich bereits vorhandene Aktanten und Orte aufgelistet und beschrieben werden.
Beispiel: zur vorhandenen Welt der Ausstellung Sherlock Holmes, dem das Projekt A Hollow Body zu Grunde liegt, gehört die Stadt London mit ihren Gebäuden, Strassen und Menschen aber ebenso die fiktionale Figur von Sherlock Holmes, seinem Partner Watson oder auch Moriarty, der als Gegenspieler von Holmes fungiert.

[*] Aktant bezeichnet hier im Sinne des Soziologen Latour alles das was agiert und bezieht sich damit nicht nur auf Menschen. In diesem Sinne ist auch eine Verkehrsampel ein Aktant, genauso wie ein Objekt, welches in einerAusstellung so platziert ist, dass es unsere Aufmerksamkeit anzieht.
Latour, B. (1992). Where are the missing masses,sociology of a few mundane artefacts application. In W. Bijker & J. Law(Eds.), Shaping Technology-Building Society. Studies inSociotechnical Change (pp. 225–259). MIT Press.


(4) Vorhandene Geschichten
Welche Fakten, Geschehnisse, Geschichten, Mythen, etc… zur Grundthematik und zu den Aktanten der existierenden Welt sind bereits bekannt.
Beispiel: Die Erzählszenarien der ARE-App beruhen auf der Theatertour «Vive la révolution» des Historischen Museums Luzern, welche für das Forschungsprojekt in Kooperation mit dem Team des Museums im augmentierten Raum neu inszeniert wurde. Die Theatertour basiert auf historisch belegten Ereignissen, wobei die Figur des Protagonisten Franz Müller aus Gründern der erzählerischen Dramaturgie fiktional ist.


RAHMENBEDINGUNGEN

(5) Publikum
Die rasante Entwicklung neue digitaler Technologien lässt die Akzeptanz  technologisch unterstützter Vermittlungsstrategien schwer abschätzen. Insofern ist es wichtig, sein Publikum gut zu kennen. Wer soll die geplante Anwendung nutzen? Welches  Vorwissen bringen diese Personen mit? Wie versiert sind sie im Umgang mit digitalen Medien? Kommen die Besucherinnen und Besucher vorzugsweise einzeln oder in Gruppen. Eventuell macht es sogar Sinn unterschiedliche Angebote für unterschiedliche Bedürfnisse und Expertisen anzubieten.  Ein jüngeres Publikum wird beispielsweise nicht primär über die bekannten Kommunikationsgefässe wie Schautafeln oder schriftliche Kulturführer angesprochen, sondern über ihr Interesse an neuen Technologien oder spielerischen Formaten. Für ältere Personen macht es wiederum Sinn, wenn die Anforderungen an die Handhabung der Technologie eher tief gehalten werden und es bei mobil geführten Inszenierungen von Kulturerbe auch immer wieder analoge Ruhepausen gibt; zum Beispiel als etwas abseits vom Besucherstrom gelegene Sitzgelegenheiten, welche das geruhsame Ausprobieren und Betrachten der Inhalte auf der mobilen Anwendung erlauben.

(6) Setting
Welche Orte oder Schauplätze stehen zur Verfügung, um die Geschichte im passenden Kontext erlebbar zu machen? Diese können mit den Orten der vorhandenen Welt (siehe Punkt 3) übereinstimmen, müssen es aber nicht. Wichtig sind dabei vor allem auch die Herausforderungen, welche die Szenerie an die Besucherin, den Besucher und an die Technologie stellt (siehe Punkt 5).
Beispiel: Ein Ort der vorhandenen Welt der Geschichte des Bourbaki Panoramas ist Les Verrières im Kanton Neuenburg, wo der Grenzübertritt der französischen Armee stattfand. Das Setting jedoch, in dem die Geschichte erzählt und erlebt wird, ist das Bourbaki Panorama Museum, welches die originale Umgebung ‘nachstellt’.

(7) Erzählwelt  – Entwicklung von neuen Inhalten
Der Begriff der Erzählwelt oder Storyworld beschreibt in der Narratologie die Gesamtheit der fiktiven Welt in die sich das Publikum einer Erzählung versetzt. Bei der Entwicklung von Computerspielen oder auch im literarischen Fantasy-Genre stehen deswegen zu Beginn oftmals nicht spezifische Handlungen oder Geschichten im Vordergrund, sondern die Beschreibung solch einer Storyworld, ihrer Bewohnerinnen und Bewohner, deren Beziehungen zueinander, ihrer inhärenten Regeln und Gesetze, ihrer Topographie, ihrer Atmosphäre, etc… Aus diesen Darstellungen entsteht eine in sich schlüssige Welt, aus der wiederum beliebig viele Erzählungen abgeleitet werden können. Somit ist die Entwicklung der Storyworld anders als die vorherigen Schritte keine Beschreibung von Vorhandenem, sondern vielmehr ein kreativer Akt. Allerdings heisst das nicht, dass die Erzählwelt frei erfunden sein muss. Sie kann sich auch von der vorhandenen Welt ableiten und nur einige oder gar keine fiktiven Charaktere enthalten. Eine Methode, die bei der Entwicklung einer Erzählwelt hilft, ist das sogenannte Moodboard (Stimmungstafel), eine zweidimensionale Collage, in der Personen, Objekte, Szenerien zusammengeschnitten werden und welches sowohl über Inhalte als auch über das Aussehen und die gewünschte Atmosphäre Auskunft geben.

Beispiel: Die Erzählwelt der MauAR App besteht grossteils aus der vorhandenen Welt Berlins, von der Entstehung der Mauer bis zu ihrem Fall. Darin finden sich historisch belegbare Aktanten wie Soldaten, Panzer oder Stasi-Akten. Für die App wurden jedoch auch neue Aktanten entwickelt, die der Vermittlung dienen. So wird die Erzählwelt auch von zwei fiktiven Personen – Andreas und Johanna – bewohnt, die als Erzähler bzw. Erzählerin fungieren. Auch ein Kaugummiautomat auf der anderen Seite der Strasse und damit jenseits der Mauer und für das Kind Andreas fortan unerreichbar, ist ein fiktiver Aktant dieser Erzählwelt.

(8) Erzählung – Entwicklung von neuen Erzählinhalten
Aus der Erzählwelt und den vorhandenen Geschichten werden nun die attraktivsten der bereits existierende Geschichten aufbereitet oder neue Geschichten entwickelt und deren Aktanten beschrieben. Es reicht, wenn diese lediglich in den Grundzügen ausgearbeitet werden. Auch dies ist wieder ein kreativer Akt, der wahrscheinlich der Hinzuziehung entsprechender Kompetenzen bedarf. Wichtig ist hierbei die Rückbesinnung auf die zentralen Werte, welche das Projekt vermitteln soll.

(9) Skript – Wem wird Was, Wo erzählt?
Hier fallen Entscheidungen darüber, welche Geschichten erzählt werden, wem sie erzählt werden (Zielpublikum) und an welchen Orten. Ein wichtiges Moment bei der Auswahl ist die Tragfähigkeit der Erzählung in Bezug auf die zentralen Werte, aber auch wie bedeutend der Ort als Aktant für die Erzählung ist. Solch ein Skript muss noch keine konkreten Mono- oder Dialoge oder fertiges Bildmaterial enthalten. Das Skript kann zur Unterstützung auch als Storyboard erstellt werden (analog wie beim Dreh eines Films). Jede einzelne Szene der Geschichte wird dabei visuell dargestellt und mit zusätzlichen Angaben zur Inszenierung, den Aktanten, zu möglichen Interaktionen und Dialogen versehen. Es beinhaltet alle wichtigen Informationen, wie bspw. zur Aufmerksamkeitslenkung und zur Anordnung der Aktanten. Es entsteht, ähnlich wie in einem Comic, eine chronologische Abfolge, die nicht nur die Handlung der Geschichte beschreibt, sondern auch Informationen zur Dramaturgie oder zur Stimmung wiedergeben kann. Das Storyboard dient als hilfreiches Kommunikationsmittel und kann als Arbeitsinstrument nicht nur bei der Entwicklung des Skripts, sondern in seiner weiter ausgearbeiteten Form auch als Vorlage für die spätere Umsetzung dienen.

(10) Mechaniken
Mechaniken und Strategien der Erzählung werden ausgesucht oder entwickelt. Soll z.B. mit Spielmechaniken gearbeitet werden, soll linear erzählt werden, soll das Publikum dazu angehalten werden, eigene Beiträge zu liefern, oder in historischen Reenactments selbst Teil der Geschichte zu werden, etc…? Diese Entscheidungen und Entwicklungen sind u.a. abhängig von Inhalten, der personen-bezogenen Beschreibung des Publikums, den didaktischen Überlegungen, aber auch von den vorhandenen Kompetenzen, dem Budget etc…
Beispiele aus der Praxis und das Wissen von Expert*innen zu den relevanten Themenfeldern liefert hierzu wichtige Hinweise:
a. Spielmechaniken:
Demigods (Getty Museum)
b. Einbezug des Publikums:
Legionärspfad Vindonissa (Museum Aargau)
c.
Storytelling
d.
Teilhabe des Publikums
e.
Spielerische Strategien

(11) Medien
In Abhängigkeit von den Mechaniken kann über den Einsatz spezifischer Medien wie beispielsweise Augmented Reality, Audio oder analoge Objekte entschieden werden.
Die Beantwortung folgender Fragen kann dabei unterstützen:
Bietet sich der Ort in seiner räumlichen Struktur eher als Projektionsfläche für Bilder an (->Bewegtbild, AR), oder kann er mitsamt den darin befindlichen Menschen und Objekten zur Bühne für eine filmische Mise-en-scène genutzt werden (Audio)?
Ist der Ort und seine beinhaltenden Objekte ein wichtiger Aktant des Kulturerbes und reich an visueller und haptischer Information (->Audio, analoge Objekte)?
Ist reiches (Archiv-) Material vorhanden, so dass aus einer Gegenüberstellung, bspw. einem Vergleich einer Momentaufnahme aus der Vergangenheit und der erlebten Realität von heute eine Spannungsverhältnis entstehen kann (-> AR)?

(12) Anwendung
Entwicklung einer Anwendung, die den Zielsetzungen in Bezug auf die Vermittlung der Werte gerecht wird, genauso wie den Bedürfnissen und Fähigkeiten des Publikums, sowie den Erfordernissen der Umgebung und der eingesetzten Medien.
Es bietet sich an mit frei verfügbaren Standard-Applikationen erst einmal zu experimentieren und einfache Prototypen zu entwerfen. Diese können dann mit kleinen Gruppen aus internen Fachpersonen, aber vor allem auch mit Laien zeitnah getestet werden. Daraus ergeben sich in iterativen Schritten, aufbauend auf den Erkenntnissen und Erfahrungen, die logischen Folgeschritte in der konkreten Anwendungsentwicklung.

Aus einer didaktischen Perspektive sind dabei folgende Vermittlungsansätze förderlich:
a) Wenn Erzählungen mit konkreten Erlebnissen verknüpft werden, die eine Erfahrung mit unterschiedlichen Sinnen ermöglichen, wobei sich sensorische Eindrücke (bspw. auditive, visuelle oder haptische) mit einer kognitiven Auseinandersetzung ergänzen.
b) Wenn Aktanten im Raum in einen narrativen Zusammenhang gesetzt werden und so zur Schlüssigkeit der Erzählwelt beitragen.
c) Ein Dialog mit der unmittelbaren Umgebung, den Aktanten und ihrer Geschichte ermöglicht wird und bei welchem jede Interaktion der nutzenden Person – von der Bewegung im Raum, dem Anhören einer Tonsequenz bis hin zum Teilen von Inhalten über eine App, eine kleinere Szene in einer größeren Erzählung darstellt.
d) Soziale Interaktionen zwischen Nutzenden in die Vermittlungsebene mit einbezogen werden und dadurch ein relevanter Bezug zur ‚aktuellen Lebenswelt‘ hergestellt wird.

Beispiele: Im vorliegenden Projekt wurde mit unterschiedlichen Ansätzen der analog-digitalen Vermittlung experimentiert und diese wurden als exemplarische Anwendungen realisiert. Sie dienen als Inspiration und sollen zum direkten Ausprobieren vor Ort einladen:
Augmented Revolution Experience (ARE): der geschichtsträchtige Ort rund um das Löwendenkmal wird zur Bühne einer theatralischen Inszenierung. Dabei wurden unterschiedliche Ansätze der Augmented Reality Technologie angewendet, welche die Möglichkeiten der Überblendung und Anreicherung der Realität mit digitalen Inhalten beispielhaft beleuchten.

Augmented Memories: ähnlich wie im Alten Bahnhof in Kassel oder beim Audiowalk A Hollow Body wurde dieser Prototyp in Form einer poetischen Erzählung entwickelt, ergänzt durch Handlungsanweisungen der Erzählstimme und einfachen visuellen Modellen welche mittels Augmented Reality in die reale Umgebung projiziert werden. Die Besuchenden treten so in einen Dialog mit den historischen Gebäuden.

Museggmauer AudioWalk: im Fokus stand das architektonische Baudenkmal als Lebensraum mit den alltäglichen Erfahrungen und Erzählungen von Personen im nahen Umfeld. Besuchenden bieten sich in diesem Audio Guide alternative Perspektiven auf die Gegenwartsbedeutung der historischen Architektur. Das poetische Narrativ der beiden letztgenannten Projekte eröffnet subtilen Spielraum, sowohl hinsichtlich der Imagination des Publikums als auch der Passgenauigkeit der medialen Bilder und Töne.

Das Praxiswissen der Expert*innen zu den relevanten Themenfeldern liefert hierzu auch wiederum spannende Hinweise:
Technik
Nutzerführung


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